„Trotz anstrengender Arbeit sind die Ärzte, Pflegekräfte und Rettungssanitäre allein nicht fähig, die Pandemie zu bekämpfen. Dazu ist auch unsere Unterstützung gebraucht. In den nächsten Tagen-Wochen wird sich herausstellen, was für einen Winter, ein Jahresende wir haben werden, ob wir fröhliche und sinnliche Weihnachten dieses Jahr feiern können“ – formulierte Dr. Béla Merkely, Rektor der Semmelweis Universität in seinem Schreiben, das in der ungarischen Zeitschrift „Magyar Nemzet“ erschien. Er teilt uns seine Meinung über das Coronavirus mit, und schreibt darüber wie wir die sich verbreitende Pandemie bekämpfen können, indem er auch auf die Tätigkeit von Ignác Semmelweis hinweist.
Im Sommer spielten wir noch mit den Gedanken, dass wir das Virus, das andere Nationen fast vernichtete, besiegen können, so werden die grundlegenden gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Prozesse nach schneller Behebung dieser Probleme reibungslos weiterlaufen können. Da während der ersten Welle die Anzahl der Infizierten gering war, bildeten viele – nach dem ersten Schreck – die Meinung, dass ihre Reaktion im Frühling eventuell überreagiert war. Es gab immer mehrere Personen, die die Nützlichkeit des Maskentragens sogar die Existenz des Virus verneinten. Sie haben sich die Wirklichkeit beschönigt.
Die zweite Welle des janusgesichtigen Virus zog aber in der letzten Augustwoche wie ein Tornado über uns. Obwohl die Experten uns vorwarnten, die Mitarbeiter im Gesundheitswesen die nötigen Vorbereitungen machten, die Politiker ein epidemiologisches, wirtschaftliches oder gesellschaftliches Schutzpaket ausarbeiteten, waren wir, Ungarn auf die zweite Welle – ähnlich zu den Menschen von Europa – nicht vorbereitet. So fallen auch in Ungarn immer mehrere Menschen Opfer zum Virus. Es passiert sehr leicht, da wir unvorsichtiger und zu selbstsicher geworden sind.
Das COVID-19 ist eine andere Krankheit als diejenigen, die wir während unserer Kindheit hatten: die Pocken, die Pest, die Cholera, der Typhus, der Scharlach, die Diphtherie, die Polio und die spanische Grippe. Diese Krankheiten sind für uns, Europäer, wie Kindermädchen; wir haben darüber viel gehört, aber nie eigene Erfahrung darüber gemacht. Dies ist eine selbstverständliche menschliche Reaktion, da das ferne Bild eines unvermuteten Ereignisses ist nicht ausreichend, man fängt an, in kurzer Zeit global zu denken, die existenziellen Fragen des Lebens umzuwerten; Unser Denken bleibt weiterhin innerhalb der gewohnten Rahmen. Umso erschreckender kann der Gedanke für uns sein, dass wir unsere Freunde und Bekannten nicht kontaktieren dürfen, und unsere Reise-, Unterhaltungs- und Gesellschaftsgewohnheiten beschränkt sind.
Leider haben wir gegenwärtig eine andere Situation: die Anzahl der Erkrankungen und der schweren Fälle erhöht sich drastisch, die meisten von uns haben inzwischen Kollegen, Nachbarn oder Familienangehörigen, die durch Coronavirus infiziert sind. Die Situation veränderte sich. Die bedeutende Frage ist nun, wie schnell wir aufwachen können.
Die ruhige Sommerperiode geht zu Ende, uns stehen schwere Monate bevor, die Anzahl der COVID-infizierten Personen erhöht sich drastisch. Trotz anstrengender Arbeit sind Ärzte, Pflegekräfte und Rettungssanitäre nicht mehr in der Lage, die Pandemie allein zu bekämpfen. Zu diesem Kampf werden wir alle, die ganze Bevölkerung gebraucht. In den nächsten Tagen-Wochen wird sich herausstellen, was für einen Winter, ein Jahresende wir haben werden, ob wir fröhliche und sinnliche Weihnachten dieses Jahr feiern können, wie das neue Jahr aussehen wird.
Durch unsere Taten von heute können wir die Zukunft beeinflussen, deshalb sind unsere Taten von heute äußerst wichtig.
Bei denjenigen, die heute infiziert werden, treten die Symptome erst in vier-fünf Tagen auf, beim schweren Verlauf der Krankheit werden die Patienten in einer Woche ins Krankenhaus geliefert. In den schwierigsten Fällen müssen die Patienten mit bilateraler Pneumonie durchschnittlich drei bis sechs Wochen beatmet werden. D.h. die Anzahl der Krankenhausaufenthalte, der an Intensivstationen behandelten Fälle, sowie die Anzahl der Todesfälle, die in den Schlagzeilen erscheinen, sind meistens 1-6 Wochen alte Angaben.
Ignác Semmelweis formulierte wie folgt: „Sollte das Bekenntnis zwar sehr schmerzhaft und erdrückend sein, kann die Leugnung der Tatsache nicht die richtige Lösung sein.“ In der ersten Jahreshälfte konnte unsere Verteidigung erfolgreich sein, weil die schnellen Regierungsentscheidungen bei Bevölkerung sofort umgesetzt wurden, und auch die Regelungen wurden eingehalten. Wir waren diszipliniert und aufmerksam. Dadurch konnten wir die Anzahl unserer Kontaktfällen um sechzig-neunzig Prozent verringern. Dies berührte unsere Seele tief, nicht gesprochen über die Personen, die ihre Arbeitsplätze oder Einnahmen wegen Lockdown verloren.
Wir waren jedoch fähig, die Beschränkungen einzuhalten, so konnten wir die Pandemie noch vor ihrem Ausbruch in Ungarn bremsen. Durch diesen Lockdown war aber unsere Wirtschaft und unsere Welt so stark zerstört sowie die Familien zerrüttet, dass wir noch ein ähnliches komplexes restriktives Maßnahmenpaket nicht mehr bekommen möchten. Dies hat aber seinen Preis, und das ist die Anpassung und die temporäre Selbstbeschränkung.
Bis zur Ankunft der Schutzimpfung haben wir mit dem Virus zusammenzuleben; wir müssen aber darüber im Klaren sein, wie wir auf uns selbst, auf unsere Umwelt aufpassen sollten.
Im Frühling kannten wir das Virus noch nicht, heute wissen wir schon, wo es eine wahre Vernichtung anrichten kann, wann es besonders gefährlich ist, so können wir uns auf seine Dämmung vorbereiten. Weil das Land nur durch große Schwierigkeiten und Opferbereitschaft wieder zu schließen ist – wie es während der ersten Welle der Pandemie gemacht wurde – haben wir die gemeinsame Verantwortung, um es zu vermeiden.
Ich empfehle Ihnen, damit wir die Gefahr nicht verneinen, wir müssen zugeben, dass sie wahr ist. Wir haben also alles dafür zu tun, damit wir der Erkrankung entgehen können. Wir können zwar nicht beurteilen, was für eine Immunantwort unser Körper auf die Infektion gibt. Es ist ja recht unterschiedlich und unvorhersagbar, wie das Virus auf einen wirkt. Wir wissen aber, dass die älteren Leute, diejenigen, die chronische, kardiologische, onkologische Probleme haben, oder Diabetiker sind, mehr gefährdet sind. Trotzdem kann man nicht behaupten, dass alle Jugendlichen die Infektion symptomenfrei überstehen. Auch die Aussage stimmt nicht, dass das Covid-19 nur auf chronisch Erkrankten gefährlich ist, und man durch gesunde Lebensweise vor Krankenhausbehandlung sicher geschützt ist. Leider habe ich schon mehrere dreißig-vierzigjährige gesunde, fitte Leute ans Beatmungsgerät gebunden gesehen.
Nach Meinung von vielen Experten kann bei der medikamentösen Vorbeugung das wichtigste Mittel die Einnahme von Vitamin D sein. Für die Erwachsenen empfehle ich täglich 3000 IE (internationale Einheit); für Kinder unter 12 Jahren 500 IE pro Tag; es lohnt sich aber, mit dem Kinderarzt darüber zu konsultieren. Selbstverständlich sind das Fittsein, die gute Kondition und die gesunde ausgewogene Ernährung auch wichtig. Die Coronavirus-Infektion kann unseren Körper auf zweierlei Weise schädigen: in manchen Fällen führt sie zu einer starken Immunreaktion; in anderen Fällen zu einer schwachen Immunantwort. Die Ursache für die starke Immunantwort ist der sogenannte Zytokinsturm, die zu schwerer Pneumonie und Schädigung von mehreren Organen führen kann. Die andere Reaktion ist – sie bildet sich eher bei älteren Leuten heraus – wenn sich die Grundkrankheit verschlechtert, wie z.B. bei Herz- und Kreislaufproblemen, Nierenerkrankung oder onkologischen Problemen; d.h. der wahre Grund für den Tod ist die Verschlechterung der Grunderkrankung.
Die Behandlungsmöglichkeiten der mittelschweren und schweren Corona-Erkrankungen sind viel umfangreicher als früher. Das durch die ungarische Fa. Richter Gedeon Nyrt. hergestellte Remdesivir, der inzwischen auch die FDA-Zertifizierung erhielt, ist ein wirksames Mittel, das die Vermehrung des Virus in den Körperzellen verhindert. Durch eine rechtzeitig begonnene kombinierte Behandlung – wo das Remdesivir mit Zugabe von Dexamethason (Steroid, das das Immunsystem regelt) und mit Zugabe von Blutplasma und Blutverdünnern kombiniert wird – kann der Zeitraum des Krankenhausaufenthaltes verringert und die Überlebenschancen erhöht werden. Weiterhin spielen bei der optimalen Behandlung der Patienten die High-Flow-Sauerstofftherapie, die nicht-invasive und invasive Beatmung, die Physiotherapie ebenso eine wichtige Rolle. In leichteren Fällen kann ein anderes antivirales Mittel, das Favipiravir zur Heilung auch beitragen.
Die authentische und verständliche Kommunikation und das beispielgebende Verhalten sind ebenso sehr wichtig. Wir dürfen uns nicht von der Angst und Passivität leiten lassen, sondern sollten auf Bewusstheit, auf die individuelle und gemeinschaftliche Solidarität und auf verantwortungsbewusstes Verhalten bauen. Wir brauchen die Jugendlichen, wir müssen sie ansprechen, damit sie im Verteidigungskampf mithelfen. Es muss allen bewusst gemacht werden, dass niemand Schuld an Verbreitung des Virus ist. Wir haben unsere Mitbürger zu überzeugen, damit wir miteinander kooperieren sollten und werden mit dem Semmelweis-Programm 2.1 starten, um die zweite Welle bremsen zu können.
Wir sollten die rasante Verbreitung des Virus verlangsamen. Die Pandemie kann nur durch die – hoffentlich innerhalb kurzer Zeit zur Verfügung stehende – Schutzimpfung komplett gestoppt werden. Bis dahin liegt in unserem gemeinsamen Interesse, damit die Anzahl der Kontakte verringert wird. Wir dürften nur diejenigen treffen, bei denen es unbedingt nötig ist. Wir sollten auf Reisen und Partys verzichten. Wenn wir miteinander kooperieren und die grundlegenden Regelungen (das Maskentragen von Kindern und Erwachsenen sowohl in Innen- als auch in Außenbereichen) einhalten – falls der Abstand von eineinhalb Metern um uns nicht zu halten ist – dann werden wir erfolgreich.
Für Dämmung der Pandemie wäre ein Riesenergebnis, wenn das Maskentragen auf Niveau von achtzig Prozent erhöht werden könnte. Und der dritte Faktor in unserem Verteidigungskampf ist: wir müssen in jeder Stunde einmal unsere Hände waschen („Semmelweis-Händewaschen“), sie desinfizieren, den Sicherheitsabstand halten, sowie auf Umarmung und Händeschütteln verzichten.
Der wichtigste Faktor jedoch ist, damit wir uns zusammenhalten. Beim Auftreten folgender Symptome – wie Entzündung der oberen Atemwege, Fieber, Verlust von Geschmacks- und Geruchssinn – dürfen wir nicht zur Arbeit, in Gesellschaft gehen, unsere Kinder sollten auch zu Hause bleiben. Das wichtigste ist unsere Gesundheit!
Im Frühling gedachten der US-Nachrichtenkanal CNN und das Google dem ungarischen Arzt Ignác Semmelweis. Der als Retter der Mütter bekannt gewordene, weltweit berühmte ungarische Arzt machte zuerst auf die Wichtigkeit des Händewaschens und der Händedesinfektion aufmerksam. „Mit meinen Unterrichten habe ich das Ziel, damit die Lehrer der medizinischen Wissenshaften allen – medizinischen Fachleuten, Pflegekräften, den letzten Badern und Dorfhebammen – beibringen, sie sollten ausschließlich entsprechend dem unterrichteten Lehrstoff arbeiten. Ich habe das Ziel, damit die Frau für ihren Mann, die Mutter für ihr Kind gerettet wird“ – sagte Ignác Semmelweis.
Seine Worte sind gegenwärtig, während der Corona-Pandemie – wenn die Anzahl der Erkrankungen und der im Krankenhaus behandelten Personen besonders hoch ist – außerordentlich wichtig. Wir müssen die Mutter, den Vater, den Mann, die Frau, die Großeltern und das Kind füreinander retten, um die Weihnachten im Familienkreis zusammen feiern können. Und wir dürfen nicht vergessen: die Wirklichkeit darf nicht verschönert werden.
Der Autor ist Universitätsprofessor, Rektor der Semmelweis Universität
Quelle: Magyar Nemzet
Übersetzung: Judit Szlovák