Ein Wahlfach am Institut für Verhaltenswissenschaften vermittelt den Studierenden interkulturelle Kompetenzen, die sie sowohl in ihrem künftigen Beruf als auch in der heutigen multikulturellen Umgebung gebrauchen können.
Der Blick aus dem 19. Stock des Theoretischen Blocks am Nagyvárad tér, in dem sich das Institut für Verhaltenswissenschaften befindet, erweckt den Eindruck von Ruhe. In Wirklichkeit handelt es sich jedoch um eine Mischung der Semmelweis-Bürger aus 115 Ländern der Welt, die durch ihr Engagement für das Erlernen der heilenden Berufe vereint sind. Abgesehen davon können sie sich jedoch in einer oder allen der vom niederländischen Sozialpsychologen Geert Hofstede identifizierten kulturellen Dimensionen voneinander unterscheiden.
Eine weiterentwickelte Version des Modells der Kulturdimensionen von Hofstede (1980) zielt darauf ab, Kulturen entlang sechs Werteachsen zu beschreiben: Machtdistanz (d. h. die Stärke der sozialen Hierarchie), Individualismus – Kollektivismus, Unsicherheitsvermeidung, Leistungs- und Erfolgsmotivation, Langfristigkeit – Kurzfristigkeit, permissive oder restriktive Einstellungen (Freiheit, um Wünsche zu erfüllen), und wie diese Werte mit dem Verhalten zusammenhängen.
Der integrierte Kurs “Interkulturelle Gesundheit” wurde 2021 an der Semmelweis Universität ins Leben gerufen, um dem Bedürfnis der Studierenden nach einer Plattform zu entsprechen, auf der internationale Studierende – die mehr als 50 Prozent der medizinischen und zahnmedizinischen Fakultät ausmachen – durch Seminargruppenarbeit zwischenmenschliche Beziehungen zu anderen Studierenden aus englischen, deutschen und ungarischen Studiengängen aufbauen können. Der Organisator des Kurses, der Soziologe Bence Döbrössy, suchte nach einem Instrument, um interkulturelle studentische Begegnungen zu erleichtern, die trotz bester Absichten leicht zu Missverständnissen führen können.
“Die Zusammensetzung der Teilnehmer ist repräsentativ für die Fakultäten, so dass es immer eine große Freude ist, wenn zum Beispiel Studierende aus der Fakultät für Gesundheitswissenschaften oder größere Gruppen aus den deutschsprachigen Ausbildungsgängen dabei sind” – sagt Bence Döbrössy, Assistenzprofessor. Obwohl der Kurs um ein einziges Thema herum aufgebaut ist, spiegelt der Schwerpunkt des Semesters den kulturellen Hintergrund und die Interessen der aktuellen Teilnehmer wider, sei es die Sportkultur, die alternative Medizin oder bestimmte Religionen. Ein solcher Kurs funktioniert am besten, wenn er eine Atmosphäre des ‘sicheren Ortes’ schafft: Hier können heikle Themen diskutiert, Erfahrungen und Wissen in beide Richtungen ausgetauscht werden, und weniger extrovertierte Studierende können sich in Kleingruppen ihren Kommilitonen öffnen” – sagt der Kursorganisator, der seit zwei Jahrzehnten interkulturelle Gesundheitskurse leitet.
Die meisten Teilnehmer sind Studenten im zweiten oder dritten Studienjahr, so dass sie sich die notwendigen Fähigkeiten aneignen können, bevor sie mit dem klinischen Teil des Studiums beginnen. Die Begegnung mit Patienten aus anderen Kulturen kann zu interkulturellen Dilemmas führen, z. B. wie Patienten ihren Zustand als Krankheit betrachten. Erworbene Werte aus einem bestimmten kulturellen Hintergrund können die Bedeutung beeinflussen, die die Gesellschaft den Symptomen beimisst. Auch die Sprache, in der Beschwerden geäußert werden, kann sehr unterschiedlich sein: In manchen Kulturen scheut man sich nicht, seine Gefühle und Wahrnehmungen intensiv zu offenbaren, während andere erst dann medizinische Hilfe suchen, wenn sich ihr Zustand ernsthaft verschlimmert hat – diese erlernten Muster machen sie weder zu Hypochondern noch zu Masochisten. Lautes Reden im Wartezimmer mag von den einen als Heiterkeit, von den anderen als Devianz empfunden werden. Eine Gruppe von Verwandten, die den Patienten begleiten, an seinem Bett sitzen und für ihn sprechen, mag einem Arzt, der es gewohnt ist, während einer Untersuchung zu schweigen, ungewöhnlich erscheinen, aber für den Patienten kann dies ein Gefühl der Zugehörigkeit vermitteln. Einen Beamten mit seinem Vornamen anzusprechen, kann als indirekt oder sogar respektlos empfunden werden.
“Meine persönlichen Erfahrungen haben mich zu diesem Thema geführt. Als Sohn eines renommierten Onkologen bin ich in Ungarn, den Vereinigten Staaten und Dänemark in einem internationalen Umfeld aufgewachsen. Ich habe einen Abschluss in Soziologie von der University of Reading und einen Abschluss in Soziologie von der University of London. In den drei Jahren meines BA-Studiums bin ich nur ein einziges Mal mit einem anderen Ungarn zusammengetroffen. Während meiner Mittelschulzeit in Dänemark habe ich 90 Mitschüler aus 60 verschiedenen Ländern gehabt. Daher war es für mich naheliegend, die Faktoren, die das menschliche Zusammenleben beeinflussen, zu erforschen und, was noch wichtiger ist, zu lehren” – erinnert sich Bence Döbrössy an seine Motivation.
Einer der Hauptpfeiler des Kurses sind die Fallstudien, die oft auf den persönlichen Erfahrungen der Studierenden beruhen.
Mein Ziel ist es, dass sie sich durch das Kennenlernen von Kulturen und Glaubenssystemen, die sich von ihren eigenen unterscheiden, in die Lage anderer versetzen können. Aber so wichtig die Rolle der Kultur auch sein mag, warne ich meine Studierenden immer vor Stereotypisierungen und gebe ihnen daher nur ungern schematische Lösungen
– sagt Bence Döbrössy.
Wichtiger als unbegrenztes Lehrbuchwissen ist die Denkweise, der die Kursteilnehmer ausgesetzt sind. Erstens werden sie für den kulturellen Pluralismus sensibilisiert, der durch die Globalisierung immer offensichtlicher wird. Zweitens werden sie mit zuverlässigen Informationsquellen vertraut gemacht, so dass sie in Zukunft in der Lage sein werden, die für das geografische Gebiet, in dem sie ihren Beruf ausüben, relevanten Kulturen zu studieren und fundierte Entscheidungen zu treffen. Da der Kurs betont, dass der kulturelle Pluralismus geschützt werden sollte, solange er nicht die Rechte anderer verletzt, ermutigen wir die künftigen Fachkräfte im Gesundheitswesen, aufmerksam und offen zu sein, Fragen zu stellen, hinter Konzepte zu blicken und zu versuchen, die ‘Sprache’ anderer Kulturen in einer Atmosphäre des Vertrauens zu verstehen und zu sprechen” – betonte der Assistenzprofessor.
Shanti, eine ehemalige Teilnehmerin der Fortbildung aus Südkorea, drückte es so aus: “Wir kommen aus einem Kaleidoskop kultureller Hintergründe, um als Ärzte auf der ganzen Welt ausgebildet zu werden. Ein Arzt ist nicht nur eine Person, die roboterhaft auf die Symptome hört und die richtige Diagnose stellt, sondern jemand, der sinnvoll auf die gesundheitlichen Bedürfnisse des Patienten eingeht. Dazu gehört auch das psychologische Gefühl des Patienten, dass man sich um ihn kümmert.”
Judit Szabados-Dőtsch
Foto: Bálint Barta, Attila Kovács – Semmelweis Universität
Übersetzung: Judit Szlovák