Unwillkürliches Zähnepressen, extreme Überbeanspruchung der Kaumuskulatur und daraus resultierende Kiefergelenksbeschwerden (temporomandibulärer Dysfunktion, TMD) betreffen etwa 30% der Bevölkerung im Inland und weltweit. Derartige Muskelbelastungen treten häufig in monotonen, konzentrationsfordernden Situationen und bei körperlicher Anstrengung auf, aber auch Stress und psychosoziale Belastungen der Patienten tragen wesentlich zum Auftreten der Symptome bei und sind oft die Ursache.
Bis vor kurzem bestand die gängige Praxis darin, die Zähne und den Zahnkontakt zu korrigieren – mit Zahnspangen oder Aufbissschiene. „Ein Teil der Fachwelt hat inzwischen erkannt, dass dieser Ansatz, der den Kontakt der Kauflächen beeinträchtigt, nicht der richtige Weg ist, da auch Menschen mit perfekter Kieferstellung und Okklusion solche Probleme haben können“ – sagt Dr. Péter Schmidt klinischer Chefarzt und stellvertretender Direktor der Klinik für Zahnärztliche Prothetik an der Semmelweis Universität. Bei der Behandlung von TMD berücksichtigt das auf diese Krankheit spezialisierte Team der Klinik daher den biologischen, psychologischen und sozialen Hintergrund des Patienten.
Bei der so genannten biaxialen Untersuchung untersuchen die Spezialisten der Klinik für Zahnärztliche Prothetik das Gebiss, die Zähne, die Kieferbewegung, das Gelenk, die Muskulatur (mit manuellen, bildgebenden und bewegungsanalytischen Geräten) und füllen anschließend einen ausführlichen psychosozialen Fragebogen aus. Neben dem Beschwerdebereich werden die Patienten nach akuten und chronischen Schmerzen am ganzen Körper (z.B. Rückschmerzen) und damit zusammenhängenden Symptomen (Müdigkeit, Schlafstörungen, Verdauungsprobleme, Kurzatmigkeit) befragt, die auch auf andere psychische Probleme wie Ängste oder Depression hinweisen können. Man geht Tätigkeiten durch, die mit Zähneknirschen und -pressen und anderen Kau- und Haltesituationen verbunden sind (kauen auf dem Ende eines Bleistifts, halten das Handy zwischen Kopf und Schulter), sowie überprüft das Verhalten des Patienten, seine psychische Verfassung und seine Selbsteinschätzung in Bezug auf die Beschwerden.
„Die Patienten kommen in die Klinik, um ihre Zahnprobleme zu lösen, aber in vielen Fällen geschieht das nicht, weil die Ursache nicht an den Zähnen liegt“– sagt Dr. Szilvia Ambrus Zahnärztin-Psychotherapeutin und Mitarbeiterin der Klinik für Zahnärztliche Prothetik an der Semmelweis Universität. „Nach dem heutigen Stand der Wissenschaft kann die Einheit von Körper und Seele nicht umgangen werden. Dies wird durch die Tatsache bestätigt, dass sich die Symptome chronischer Patienten in stressreichen Situationen ebenfalls verstärken“ – fügt sie hinzu. Neben biologischen und psychologischen Ursachen hat auch der soziale Hintergrund einen Einfluss auf den Zustand der Patienten. Schmerz ist ja auch ein erlerntes Verhalten, das je nach sozialem Hintergrund unterschiedlich behandelt wird.
Wenn jemand mit Schmerzen lebt, kann sein sozialer Status anders sein, er kann stigmatisiert werden, das zu Angst, Depression und sogar Ausgrenzung führen kann“
Daher ist neben der Diagnose auch das Informieren der Patienten eine Priorität. „Um sicherzustellen, dass ein Patient, der mit einem knackenden Kiefergelenk in die Klinik kommt, versteht, wie sein Zustand zu verbessern ist, und nicht befürchtet, dass sich sein Zustand erheblich verschlechtert, sind Informationen unerlässlich. Angst kann die Muskelspannung erhöhen und ein ansonsten einfaches Problem verschlimmern“ – erklärt sie.
Unbehandelte Symptome können langfristig zu psychischem Problem führen, abermanche Menschen mit TMD sind ohnehin Perfektionisten, sie haben ein Bedürfnis, etwas zu leisten, sie neigen zum Grübeln, sie versuchen, Probleme im Unbewussten zu verbergen, was sich in Form von Kieferpressen äußern kann.
Die psychotherapeutische Unterstützung ist auf den Einzelnen zugeschnitten, und bei Bedarf überweist der Zahnarzt den Patienten an eine geeignete Behandlung. Das kann ein Selbsthilfebuch sein, eine achtsamkeitsbasierte Therapie, eine Verhaltenstherapie oder eine Beratung durch einen Psychologen. „All dies kann einem helfen, seine Probleme loszuwerden, anstatt mit den Zähnen zu knirschen“ – sagt Dr. Szilvia Ambrus.
Physiotherapie ist eine wichtige Ergänzung zur zahnmedizinischen und psychologischen Behandlung von TMD, auch wenn sie oft nicht die Ursache behandelt. „Mit der Physiotherapie lindern wir die Schmerzen, verbessern die Funktion des Kaugelenks, was die Lebensqualität verbessert, und der Patient kann selbst das Problem kontrollieren, was auch eine psychologische Unterstützung für ihn ist“ – sagt Bernadett Molnár, Physiotherapeutin und eine der Entwickler des Kurses zur Physiotherapie und Kiefergelenksdysfunktion, die an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften an der Semmelweis Universität unterrichtet. Die Physiotherapie ist idealerweise auf den Einzelnen zugeschnitten, aber bestimme Übungen können auf Anraten eines Spezialisten für Kiefergelenksdysfunktion auch zu Hause durchgeführt werden, wie es in der begleitenden Lehrvideo von Bernadett Molnár erklärt wird.
Neben der Beseitigung der Ursachen (Stress) geht es vor allem darum, unnötige Bewegungen, die man nicht bewusst ausführt, bewusst zu machen und dann abzustellen. Wie bei der Unterstützung der Raucherentwöhnung geschieht dies nicht von heute auf morgen; sind die kritischen Situationen erst einmal identifiziert, muss die Ersatzhandlung in diesen Situationen zunächst durch eine andere Tätigkeit ersetzt werden, die keine Beschwerden verursacht. „Post-it-Zettel mit der Aufschrift Entspannung an Orten, an denen wir viel Zeit verbringen, können dabei helfen” – sagt Bernadett Molnár. „Man kann eine Benachrichtigung auf dem Handy einstellen, die einen daran erinnert, von Zeit zu Zeit aufzustehen und Nacken- und Schulterdehnungen zu machen. Die Zähne sollten einander im Ruhezustand nicht berühren. Wenn Sie also dazu neigen, beim SMS-Schreiben die Zähne zusammenzubeißen, empfehlen wir, stattdessen mit Zungenspitze den Gaumen zu berühren”, erklärt sie.
TMD betrifft hauptsächlich die erwachsene Bevölkerung, vor allem Frauen, aber auch Kinder und Jugendliche sind deutlich häufiger betroffen.
Zsófia Végh
Übersetzung: Patrícia Hellinger
Foto: Bálint Barta, Bettina Gál – Semmelweis Universität
Video: Tamara Bartincki, Gergely Fodor-Nagy, Bettina Gál, Nándor Grőger, Eszter Kovács, Attila Kucsa, Máté Lefler, Zétény Varga, Zsófia Végh, Anita Zsemlye – Semmelweis Univesität
Expertin: Bernadett Alexa Molnár, Physioterapeutin, Kieferspezialistin