ANATOMISCHES THEATER

Dr. Miklós Réthelyi: Der Mensch auf der Bühne der moralisierenden Anatomie


Die im Titel der Ausstellung vorkommenden beiden Wörter sind in der deutschen Sprache zwar allseits bekannt, sind jedoch seit geraumer Zeit nicht nebeneinander gestellt worden. Die ANATOMIE kann ein Fach sein, das gelehrt und gelernt wird, es kann ein Institut sein, wo man sich mit dem Körperaufbau der Wirbeltiere befasst, es kann ein Lehrbuch sein, von dem am Ende des 19. Jahrhunderts auch in Ungarn schon Zahlreiche Exemplare erschienen sind. Das THEATER, also die Bühne, ist Heute kein Bestandteil der anatomischen Institute mehr. Zu der durch die Ausstellung wachgerufenen Zeit lebte, arbeitete und unterrichtete der Anatom und seine Mitarbeiter auf der Bühne. Die Geschichte der Anatomie lässt sich auf drei Zeitalter, abgegrenzt durch das Schaffen zweier Personen, aufteilen. Die vorgalenische Periode (die Zeit vor dem Schaffen des Galenus), begann im 3. Jahrhundert v. u. Z. mit sporadischen Leichenöffnungen. Galenus fasste die Kenntnisse siener Zeit, des 1-2. Jahrhunderts, zusammen, und aus diesen Büchern wurde die Anatomie bis ins 16. Jahrhundert, also bis zum schaffen des Vesalius unterrichtet. Diese mittlere Periode, die mit dem christlichen Mittelalter bzw. der Zeit der Scholastik Zusammenfällt, ist gleichzeitig die Periode, die von Galenus bestimmt wird. Mit dem auftreten des Vesalius in der Mitte des 16. Jahrhunderts beginnt das Zeitalter der modernen Anatomie.

Andreas Vesalius

Andreas Vesalius (1514-1564)

Wer war Andreas Vesalius? Seine Jugend verbrachte er in Brüssel, seine medizinischen Studien betrieb er in Paris zwischen 1533 und 1536. In Padua wurde er Professor der Chirurgie und der Anatomie. In den 1540-er Jahren wurde ihm klar, dass Galenus den Aufbau des menschlichen Körpers mit Hilfe von Kenntnissen beschrieb, zu denen er durch die Dissektion von Tieren gelangte. Diese viel Mut erfordernde Erkenntnis konnte ihn dazu bewegen, aufgrund persöhnlich unternommener Dissektionen die Anatomie des menschlichen Körpers neuzuschreiben und neuzuzeichnen. Die Zeit des Vesalius war die der Renaissance, zu seinen beteutendsten Zeitgenossen gehörte Leonardo, Columbus, Copernicus, Martin Luther, Erasmus von Rotterdam, sowie Thomas Moore.

Das ANATOMISCHE THEATER, der Tempel der Sterblichkeit, entstand im 16. Jahrhundert, und blühte vornehmlich in italienischen, französischen, und niederländischen Städten. Das ANATOMISCHE THEATER war der Schauplatz der ANATOMIE, der mehrere Tage dauernden Bühnen-dissektion. Wer waren die Teilnehmer? Zur Bühnen-dissektion bedurfte es der sezierenden Person, dem Prosector, dem mit einem langen Stab zeigenden Demonstrator, und dem Professor, der von einem Pulpit aus die Vorgänge erklärte und unterrichtete. Später, gerade als Folge von Vesalius‘ Schaffen, blieb nur der Professor übrig, der neben der sizierten Leiche Stand, und die Organe zeigte. Natürlich bedurfte es auch einer Leiche. Lange Zeit wurden die von den Gerichten zum Tod durch den Strang verurteilten, nach vollstreckung des Urteiles vom Galgen geholten Leichen der Verurteilten siziert. Da man die Leichen nicht konservieren konnte, kam es zu Dissektionen zumeist in den Wintermonaten. Die bühne selbst war Kreisförmig, sich rundherum Treppenartig erhöhend. Der Siziertisch stand im Zentrum des Kreises, an der teifsten Stelle. Wer waren die Zuschauer der Dissektion? Nicht nur jene, die sich einer medizinischen Laufbahn widmen wollten, sondern vielmehr die intelligente und neugierige Elite der Stadt und der Umgebung, ja nicht selten die gesamte Familie. Die zuschauer mussten für das Schauspiel bezahlen. Das ANATOMISCHE INSTITUT spiegelte das geistige, kulturelle und künstlerische Niveau, den Entwicklungsstand der Stadt, und deren Offenheit auf das Neue wieder. Die Londoner Bürger und Aristokraten besuchten die Vorstellungen der Niederländischen Städte Leiden und Amsterdam, und waren wieder zuhause angekommen empört darüber, dass in ihrer eigenen Stadt die Gesellschaft der Barbiere und Chirurgen in den 1540-er Jahren nur vier Leichen im Jahr sizierte.

Auf dem vorderblatt vom Buch des Vesalius – De Humani Corporis Fabrica Libri Septem – ist all das sichtbar, was für das ANATOMISCHE INSTITUT typisch war. Es ist ein Kreisförmiger, durch Säulen verzierter Raum (auf der Zeichnung im Schnitt), in der Mitte auf einem Siziertisch liegt eine weibliche Leiche mit offener Bauchhöhle. Neben ihr steht Vesalius, seine rechte Hand weist auf die Gebärmutter. Über den Siziertisch türmt sich ein Skelett, in seiner Hand ein langer Stab. Darüber in der Kuppel auf einer Tafel der Name, die Herkunft des Vesalius und der Titel seines Buches. Noch höher sein Familienwappen: drei Wiesel. Der Saal ist voll von Menschen. Vesalius schaut aus dem Bild heraus, das Gesicht der Frau auf dem Siziertisch ist auf Vesalius gerichtet. Das Ergebnis der Leistung des lebenden Anatomen und des toten Menschen ist ein 2-3 Tage langes Schauspiel. Das Bild suggestiert, dass die tätigkeit des Anatomen den Körper nicht zerstört, sondern dass der Körper es ihm ermöglicht, in der Vergänglichkeit und dem Verderb die Großartigkeit der von aussen unsichtbaren Organen des von Gott geschaffenen Körpers zu zeigen. Durch die Dissektion des Körpers erlangten die Zuschauer Wissen. Wissen, das im Gegensatz zu den vorhergehenden Jahrhunderten nicht aus Büchern gesammelt werden musste, sondern als Zuschauer durch persöhnliche Erfahrungen durchlebt und festgehalten werden konnte. Gleichzeitig wurde die Leiche des erhängten hierdurch zu einer Quelle dieses bislang unbekannten wissens. Eine zentrale Rolle in diesem Symbolsystem hat die Leiche und die Gebärmutter. Als ob Vesalius hierdurch zum Ausdruck bringen wollte, dass, obwohl gerade durch die Erkenntnisse seines Zeitgenossen Copernicus das geozentrische Weltbild durch das heliozentrische abgelöst wurde, für den Menschen der Ursprung, der Mittelpunkt doch die Gebärmutter ist. Gleichzeitig nach oben blickend fällt unser Blick auf das Skelett, um zum Ausdruck zu bringen, dass wir geboren sind, um zu sterben: NASCENTES – MORIMUR. Vesalius, 1543De Humani Corporis Fabrica
Libri Septem
(1543)

 

 

Die Anatomie des THEATRUM ANATOMICUM war eine „öffentliche Anatomie“ (anatomia publica). Nebenbei gab es Jahrhunderte hindurch eine „heilige Anatomie“ (anatomia sacra). Die sterblichen Überreste der Heiligen wurden als Reliquien verehrt, und in so vielen Teilen auseinandergetragen, wie es nur irgend möglich war. Die Mitglieder königlicher Familien, Adelige, vornehme Leute konnten es sich leisten, gewisse Organe, meistens ihre Herzen an einem anderen Ort zu begraben, als ihren Körper. Den Renaissance-Menschen dürstete es nach direkten Erfahrungen, nach der Erkundung und Entdeckung bislang unbekannter Gebiete. Neben dem Verlangen die weiten des Himmels (den Makrokosmos), die unbekannten Erdteile und die den Menschen umgebende Welt zu erkunden und zu erforschen, trat auch das Verlangen, das innere des Menschen, den Mikrokosmos zu erforschen, mit elementarer Kraft auf. Und wie auch der Reisende eine Karte über das erkundete Gebiet anfertigt, so ruft auch der Anatome zum zeichnen des Körperbildes den Künstler zu Hilfe.

"Muskelmensch"

Die anatomische Abbildungsweise änderte sich von Zeit zu Zeit, aber der ehrenamtliche Anatom Leonardo und der Gründer der modernen Anatomie, Vesalius brachten eine sprunghafte Veränderung in der Darstellung des menschlichen Körpers. Die Zeichnungen Leonardos sind bis ins Detail ausgearbeitet, und vorläufer der funktionalen anatomischen Denkweise. Auf den Bildern des Vesalius – bzw. auf den seines Zeichners Calcar (wahrscheinlich ein Schüler Tizians) – ist der „Knochenmensch“, der „Muskelmensch“ oder „Der seine Eingeweide zeigende Mensch“ auf der scheinbar breiten Spur zwischen Leben und Tod, in natürlicher oder gebauter Umgebung, in Lebensnahen Situationen zu sehen. Die Bewegung, die Hinstellung des Körpers in eine Landschaft suggestiert wieder, dass die Geechteten des Lebens, die hingerichteten Verbrecher sich durch die eröffnung ihres Körpers zu Personen mit einer unsterblichen Seele transformierten.

Was wird wohl die Nachricht dieser Ausstellung sein? In der durch Galenus geprägten Zeit war der Körper des Menschen untergeordnet, das Seelenheil war das höchste Ziel. In den Jahrzehnten der Renaissance trat das Intresse nach den Geheimnissen des Körpers mit elementarer Kraft auf. Heutzutage, mehrere Jahrhunderte später scheinen sich die Menschen weder für die Tiefen der Seele, noch für die Geheimnisse des Körpers zu interessieren. Ich Hoffe, dass sich viele von den Besuchern der Ausstellung der Atemberaubenden Schönheit des menschlichen Köperaufbaus besinnen, und auf die uns von der Schwelle zwischen Leben und Tod eine Botschaft sendenden Bilder blickend, ihnen auch die Realität über der mit dem Körper eine Einheit bildenden Seele aufdämmert.

(Anatomisches Theater, der Mensch auf der Bühne der moralisierenden Anatomie, Ausstellung im Semmelweis Museum für medizinische Geschichte. Erőffnung: 21. März 2001.)


SEMMELWEIS ORVOSTÖRTÉNETI MÚZEUM (Semmelweis Museum für medizinische Geschichte)
Geburtshaus von Ignác Semmelweis, I. Bezirk, Apród str. 1 – 3. Telnmr.:375-3533
Anatomisches Theater
: 20. März 2001 –-  1. Jan 2002.
Geöffnet: jeden Tag ausser Montag von 10:30 bis 17:30.