Selbstbestimmung und Verantwortung in der letzten Phase des Lebens 
Dietmar MIETH  Contact / Kontakt / Kapcsolat
EJMH Vol 4 Issue 2 (2009) 257–264; https://doi.org/10.1556/EJMH.4.2009.2.6
Received: 6 November 2008; accepted: 17 June 2009; online date: 15 December 2009
Section: Short Communication
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Abstract

Self-Determination and Responsibility in the Final Stage of Life: The way we think about dying is mostly dependant on our experiences and concepts. In addition to this, passing away is frequently considered the most personal thing in the world. This nearly always reflects protest against some kind of a situation experienced first hand or related by others, which lacked quality of life and quality of death. Once self-determination made a stellar career in medicine, and rightly so, as opposed to foreign decisions made by doctors and nurses, some attempted luring it past this goal. Therefore, some feel safe while caring for sick people and those requiring treatment if they can prove they are acting on express agreement or rejection. With an increase of distrust, the need to take measures against it also increases. Many benefits accrue from selfdetermination. But as in traffic, this right of way requires one to be circumspect, and to consider others. It is one thing to be able to decide about ourselves, and an entirely different thing to set up rules regarding how everybody else should decide. It escapes the attention of many that passing legislation about the freedom of care, treatment and accompaniment to death is not only about an existential point of view, but also the shared responsibility of society. Those, who regard self-determination only as an unopposed choice, which all other concerned parties need to subject their responsibility to, ignore the fact that responsible self-determination always needs to take others into consideration. Responsibility is, at the same time, an obligation to ourselves. Those who see they are a burden to others and remain isolated will lose some of the meaning they give to life. Self-determination often becomes the focus of discussion when money becomes scarce, and people no longer feel they have time for those requiring care. What they are left with is often – improperly – called ‘self-determination’. Responsibility means seeing people in relationships that do not treat everything individually. This is precisely why we have a civic responsibility to ensure that people do not remain on their own and receive help in carrying their burden once their life becomes restricted. In this case we not only honour their selfdetermination to save ourselves some responsibility, but rather to give them respect.

Keywords

relationships, shared responsibility, declared agreement, quality of life/death, rules, assumption of obligations, dying

Zusammenfassung

Selbstbestimmung und Verantwortung in der letzten Phase des Lebens: Wie wir über das Sterben denken, hängt viel von unseren Erfahrungen und Voreinstellungen ab. Dabei wird Sterben oft als die individuellste Sache der Welt betrachtet. Man hört: So will ich nicht am Leben bleiben; so will ich nicht sterben. Darin steckt fast stets ein Protest gegen eine erlebte oder erzählte Situation, in der es an Lebens-/Sterbensqualität mangelte. Nachdem in der Medizin die Selbstbestimmung zu Recht eine steile Karriere gegen die ärztliche oder pflegerische Fremdentscheidung angetreten hat, lockt man sie jetzt über dieses Ziel hinaus. So fühlt sich mancher im Handeln bei kranken und pflegebedürftigen Menschen erst dann abgesichert, wenn er nachweisen kann, dass er einer informierten Zustimmung oder Ablehnung gefolgt ist. Wo das Misstrauen wächst, wächst auch das Bedürfnis, sich dagegen zu schützen. Vorfahrt für Selbstbestimmung ist gut. Aber wie im Verkehr verlangt die Vorfahrt auch Umsicht und Rücksicht. Für sich selbst zu entscheiden, ist das eine, Regeln dafür aufzustellen, wie sich alle entscheiden können, ist das andere. Viele übersehen, dass es nicht nur um existentielle Betrachtungen geht, wenn Gesetze zur Pflegekarenz, zur Betreuung, zur Sterbebegleitung gemacht werden, sondern auch um eine gemeinsame Bürgerverantwortung. Wer Selbstbestimmung nur als ungehinderte Wahlmöglichkeit betrachtet, der alle anderen Beteiligten ihre eigene Verantwortung unterzuordnen haben, übersieht, dass eine verantwortliche Selbstbestimmung stets den anderen mit im Blick und mit im Boot haben sollte. Verantwortung enthält auch Selbstverpflichtung. Wer sieht, dass er zur Last fällt und isoliert bleibt, büßt Lebenssinn ein. Oft wird von Selbstbestimmung geredet, wenn die Mittel knapp werden und die Menschen keine Zeit mehr für die Pflegebedürftigen aufbringen. Was ihnen dann noch bleibt, wird zu Unrecht „Selbstbestimmung“ genannt. Verantwortung heißt, den Menschen, der als Einzelne nicht alles im Griff hat, in Beziehungen zu sehen. Deshalb tragen wir eine Bürgerverantwortung dafür, dass Menschen nicht allein gelassen werden, wenn ihr Leben eingeschränkt ist und dass ihnen geholfen wird, ihre Last zu tragen. Dann weisen wir ihnen ihre Selbstbestimmung nicht einfach zu, um uns Verantwortung zu ersparen, sondern wir respektieren sie.

SCHLÜSSELBEGRIFFE
Beziehungen, gemeinsame Bürgerverantwortung, informierte Zustimmung, Lebens-/Sterbensqualität, Regeln, Selbstbestimmung, Selbstverpflichtung, Sterben

Corresponding author

Prof. Dietmar MIETH
Universität Tübingen
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